Die Welt ist ein Gespräch

Hier geht es um die philosophischen Begriffe Sein und Sprache. Vielleicht verhält es sich ja nicht so, dass Sein (oder auch Seiendes) die Sprache aus sich entließe, und u. U. ist es umgekehrt auch nicht so, dass aus der Sprache etwa Sein oder Seiendes hervorginge. Es könnte sein, dass beide Begriffe komplementär zueinander sind, komplementär im Sinne von Niels Bohr, der diesen Begriff in die Physik einführte, z. B. für das Verhältnis von Wellen- und Teilchenaspekt des im Bereich der physikalischen Sprache Seienden: einerseits die Kraft (oder das Kraftfeld, Welle, Sprache), andererseits die Partikel (Seiendes, Teilchen, Angesprochenes). Weder lässt sich das Teilchen auf das Feld noch umgekehrt das Feld auf das Teilchen zurückführen. Dieser Gedanke von Komplementarität fügt sich scheinbar zwanglos in eine Sichtweise, für die die Endlichkeit des Daseins fundamental ist. Doch Vorsicht: Das Bellsche Theorem lehrt, dass ‒ jedenfalls in der Physik ‒ von der Tatsache der Komplementarität nicht auf die Unvollständigkeit der Theorie geschlossen werden darf. Auch ein allwissender Gott würde keine weiterreichende Erkenntnis haben.
Die Wirklichkeit ist weder eine des Seins oder des Seienden, noch ist sie eine der Sprache allein. Keiner dieser Aspekte zeigt die Wirklichkeit, wie sie an sich ist, aber beide zusammen sind die einzigen Weisen, überhaupt Zugang zur Wirklichkeit zu haben. Dieses Verhältnis (die Komplementarität der Grundbegriffe) stünde auch in Übereinstimmung mit jenem (altindischen) Denken, wonach, was auch immer gedacht wird, nicht ohne sein Gegenteil gedacht werden kann. Auch der alte Satz das Eine in sich selbst Unterschiedene, der am Anfang des philosophischen Idealismus steht, würde von dieser Sichtweise nicht beschädigt werden.
Zuletzt könnte man, da die grundlegenden philosophischen Gedanken viel von der Natur der Mathematik an sich haben, einen Bezug zu den dualen Theorien (etwa der projektiven Geometrie) herstellen. Die dort bestehende Dualität der Grundbegriffe und Axiome ließe sich in ähnlicher Weise auch in den Grundbegriffen und Grundsätzen des philosophischen Denkens finden.

Komplementarität